Leipnitz Fritze und sein Aktienhelm

Das starke Anwachsen der städtischen Verwaltungsarbeit unter dem Bürgermeister König (1863 – 1890) ergab die zwingende Notwendigkeit, einen Gemeindediener, später Polizeidiener genannt, einzustellen, der dem Bürgermeister stets zur Hand war und stellvertretend für ihn polizeiliche Funktionen auszuüben hatte.
Als erster Gemeindediener von Nerchau amtierte der Klempnermeister Leistner. Er trat seine Funktion im Frühjahr 1876 an. Neben seiner Amtstätigkeit hatte er gleichzeitig die Pflege und Bedienung der Straßenlaternen zu übernehmen. Seit Februar 1875 hatte nämlich Nerchau seine erste Straßenbeleuchtung – 8 Petroleumlampen. Leistner war verpflichtet, diese Lampen in der dunklen Jahreszeit anzuzünden und bei Tagesanbruch auszulöschen, sie den Sommer über aufzubewahren und bei Wiedergebrauch für den Winter frisch zu lackieren.
Leistners Nachfolger wurde 1882 der Leineweber Friedrich Leipnitz (Leipnitz Fritze), der in der Grimmaischen Straße wohnte und dort ein kleines Häuschen mit einem kleinen Vorgarten besaß, in dem zwei Birnbäume standen, über die im Beitrag „Der Prozeßbirnbaum“ schon berichtet wurde. Das Häuschen stand an der Stelle, wo jetzt das Wohnhaus der ehemaligen Tischlerei Steuer, unmittelbar neben der ehemaligen Gaststätte „Zur Quelle“ (an der Ecke zur Würschwitzer Straße), steht.
Über diesen „Leipnitz Fritze“ ist einiges zu berichten. Von Haus aus mehr humorvoll veranlagt war er allgemein beliebt und pflichtbewusst. Alle erteilten Aufträge erledigte er gewissenhaft. Solange er allein als Polizeidiener, später als Schutzmann und noch später als Stadtwachtmeister fungierte, hat er nie Urlaub gemacht, weil er sich für unabkömmlich hielt. Er war von seiner Wichtigkeit so überzeugt, dass manche seiner Diensthandlungen anderen Personen gegenüber mit den Worten begannen: „Ich und mein Chef sind der Meinung……“ (mit dem Chef war der Bürgermeister gemeint). Lange Jahre hindurch war er in einer Person Ratsdiener, Polizeidiener, Kassenbote, Kalfaktor und Laternenwärter. Wenn er vormittags um 8 Uhr „vorschriftsmäßig“ in Uniform erschien, hatte er bereits in früher Morgenstunde in brauner Strickjacke und Mütze im Stadthaus die Verwaltungsräume gesäubert, die Öfen geheizt u.a.m. verrichtet. Als Polizeidiener war er unbewaffnet im Gegensatz zu seinen Kollegen in den Nachbarstädten. Und das ärgerte ihn außerordentlich. Nach seiner Auffassung musste ein Polizeidiener bewaffnet sein, um sich dadurch in der Öffentlichkeit mehr Respekt zu verschaffen. 1884 ging endlich sein Wunsch in Erfüllung. Der Gemeinderat genehmigte nach langen Diskussionen 18 Mark aus dem Stadtsäckel für die Anschaffung eines Seitengewehrs (Säbel) mit Portepee (Troddel am Säbelgriff) und Koppel (Leibriemen). Von nun an war Fritze selig und stolz trug er seine „Wehr und Waffen“ durch die Straßen der Stadt, wenn er dienstlich unterwegs war.
1890 starb der Bürgermeister König, sein Chef. Ein neuer Bürgermeister wurde gewählt und eingesetzt. Es war Gustav Adolf Emil Kaulisch, ein außerordentlich fortschrittlicher und ideenreicher Mann, dem Nerchau in seiner Entwicklung viel zu verdanken hat. Dieser neue Bürgermeister nahm u.a. auch seinen Polizeidienst unter die Lupe. Das Ergebnis fiel bei den Qualitäten von Leipnitz nicht schlecht aus. Nur eines störte den Chef, dass nämlich zur Uniform mit Wehr und Waffen nur eine Dienstmütze getragen wurde. Seiner Meinung nach gehörte zu einer kompletten Uniform unbedingt ein Diensthelm. Er ärgerte sich über die Kurzsichtigkeit und den Geiz der Nerchauer Stadtväter. Waren schon vor Jahren mit großen Schwierigkeiten und Überredungskünsten im Gemeinderat die 18 Mark für die Bewaffnung des Polizeidieners locker gemacht worden, so stieß der neue Bürgermeister bei seiner Forderung nach einem Diensthelm auf taube Ohren und härtesten Widerstand. Für so etwas hatten die Nerchauer kein Geld übrig. Der Bürgermeister ließ aber nicht von seinem Vorhaben ab, seinen Polizeidiener zu „behelmen“. Er wartete. Schließlich kam ihm der Zufall zur Hilfe.
In Nerchau war es üblich, dass sich an einem bestimmten Tage in der Woche die „Honorationen“ (sprich Geldleute) der Stadt, die zumeist auch Mitglieder des Gemeinderates und Gegner des Bürgermeisters waren, zu einem Abendschoppen im „Goldenen Stern“ (jetzt Bürgerzentrum) einfanden, der unter reichlichem Alkoholverbrauch sich mitunter bis in die frühen Morgenstunden des nächsten Tages ausdehnte. Kaulisch ließ sich ab und zu der Popularität wegen am Stammtisch sehen, ohne dabei übermäßig zu bechern. Als er wieder einmal dort war, hatte er plötzlich einen Einfall. Ausgehend von dem Gedanken, dass Alkohol Geist und Verstand lähmt, nutzte er die alkoholgeschwängerte Situation so aus, dass er das Gespräch auf den verweigerten Diensthelm lenkte. Man hörte ihm diesmal scheinbar wohlwollend und lächelnd zu, machte kleine Witzchen zur Sache, aber weiter geschah nichts. Kaulisch ließ nicht locker. Endlich biss einer an und kam sich besonders geistreich vor. Er machte einen Vorschlag, den er gar nicht ernst meinte. Es sollte vielmehr ein Witz sein. „Wie wäre es denn, wenn wir alle zusammen eine Aktiengesellschaft gründen. Jeder kauft eine Aktie. von den eingegangenen Geldern wird dann der Helm gekauft. Dadurch wird die Stadtkasse entlastet, wir machen dabei vielleicht noch ein Geschäft und der Bürgermeister lässt uns endlich in Ruhe.“ Großes Gelächter und Beifall. Kaulisch sah seine Chance. Schon hatte er einen Hut in der Hand, hielt ihn einem Zecher vor die Nase und bat um Einzahlung der ersten Aktie. Keiner konnte jetzt kneifen, wenn er sich nicht blamieren wollte. Im Hut kam so viel Geld zusammen, dass Kaulisch in den nächsten Tagen den Helm kaufen konnte, der von Leipnitz Fritze aber nur sonntags und bei besonderen Anlässen getragen wurde. Der Helm erhielt den Namen „Aktienhelm“. Er befindet sich heute noch in der Ausstellung der Nerchauer Heimatstube im Heimathaus.
Es sollen einige Stammtischbrüder längere Zeit mit Kaulisch geschmollt haben, weil er sie und damit indirekt den Gemeinderat im Suff überfahren hatte. Kaulisch aber lachte sich eins ins Fäustchen.

(Dieser Text wurde 1974 vom Heimatforscher Walther Koch verfasst und 2020 auf den neuesten Stand gebracht.)
Eine leider schon arg verwitterte Figur auf dem Wegweiser am Gänsemarkt in Nerchau erinnert noch heute an den legendären Leipnitz Fritze
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