Nach Fertigstellung des neuen Bürgerzentrums an der Nerchauer Hauptstraße erfolgte 2005 der Umzug der Stadtverwaltung nach dort. Das bisherige Rathaus in der damaligen Bahnhofstraße 1 stand damit zur Disposition und wurde dem Heimatverein zur Nutzung überlassen. Die seit den 1980er Jahren im Kreismuseum Grimma verwahrten Exponate und Archivalien der ehemaligen Heimatstube kamen zurück nach Nerchau und konnten nun wieder ausgestellt werden. Das bisherige Rathaus erhielt nun den Namen „Heimathaus“.
Im Archiv des Nerchauer Heimatvereins gibt es ein umfangreiches Schriftstück, in dem der Nerchauer Lehrer Erich Richter in den 1930er Jahren über die wechselvolle Geschichte des Grundstücks auf dem sich das Heimathaus befindet berichtet. Es dient maßgeblich als Grundlage für den nachfolgenden Beitrag.
Die heutige Beamtenschulstraße war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ein schmaler etwa drei Meter breiter Zufahrtsweg vom unteren Markt zum Wiesental, das damals „Hain“ genannt wurde. Richtung Muldewiesen führte vom Markt die Kirchgasse, die nach dem Bau der Muldentalbahn (1872 – 1877) entsprechend verbreitert und in Bahnhofstraße umbenannt wurde.
Im Zusammenhang mit der Eingemeindung von Nerchau nach Grimma 2011 wurden die Bahnhofstraße in Parkstraße und die Schulstraße in Beamtenschulstraße umbenannt.
Auf dem Eckgrundstück Parkstraße / Beamtenschulstraße befand sich ursprünglich das Wötzoldsche Kleinpferdnergut. Dieses Gut war ein typischer fränkischer Dreiseitenhof. Mit der Front stand es nach der heutigen Beamtenschulstraße. Die Toreinfahrt war etwa an der Stelle, wo die heutige Beamtenschulstraße auf den Markt stößt. Auf dem Standort des Heimathauses wurde 1858 das Wohnhaus der Bauernfamilie gebaut. Das war vermutlich ein Ersatzbau, denn im rechten Winkel dazu (Richtung Mulde) stand schon ein 1747 erbautes Seitengebäude, welches 1908 abgerissen wurde, um Platz für das städtische Gerätehaus zu schaffen. Richtung Wiesental stand parallel zum Wohngebäude die Scheune. Am Ende des Zufahrtsweges als Abgrenzung zum „Hain“ war zwischen Scheune und der Gartenhecke des gegenüberliegendem Grundstücks von Böttcher Heinrich Hessel ein Falltor.
Scheune und Seitengebäude waren Fachwerkbauten. Die Grundmauern des neuen Wohnhauses wurden aus Bruchsteinen und die Mauern darüber aus gebrannten und ungebrannten Lehmziegeln errichtet. Diese Baustruktur ist auch heute noch im Heimathaus nachvollziehbar. Die handgeformten (gestrichenen) Ziegel stammten aus der eigenen Ziegelei des Bauherrn, die sich an der Kirchstraße (heute Kurth’s Gut) befand.
Nur zwei Jahre diente das Wohnhaus seinem eigentlichen Zweck als Bauernwohnhaus, denn Johann Friedrich Gottlob Wötzold musste krankheitshalber 1860/61 fast sein gesamtes Acker- und Wiesenland verkaufen.
Nach diesen Landabtretungen wurde die Scheune abgebrochen und das Baumaterial verkauft.
In den folgenden Jahren betrieb Wötzolds Sohn August im Seitengebäude eine Seilerei und Sohn Franz richtete im Wohnhaus ein Konfektionsgeschäft ein. Wohnhaus und Seitengebäude des Wötzoldschen Gutes enthielten auch mehrere Mietwohnungen. Bei der „Größe“ der Gebäude heute kaum vorstellbar.
1873 verstarb Johann Friedrich Gottlob Wötzold und seine Witwe verkaufte 1884 das Restgut an die Stadt Nerchau. Anderthalb Jahr später verkaufte die Stadtgemeinde das zum ehemaligen Wötzoldschen Grundstück gehörige Gartenland für 2730 Mark an die Schulgemeinde, die unter Einbeziehung von Wiesenflächen des „Hains“ darauf einen Schulneubau errichten ließ (1886).
Der Schulneubau erforderte eine Verbreiterung des bisherigen Weges zum „Hain“. Der neuen Straße fielen zum Opfer: die Toreinfahrt zum Wötzoldschen Hof mit Linde und Stellmacher Kutzsches kleine Scheune. Die Stadt zahlte an Kutzsche 410.- Mark und erwarb für ihn Bauland zu einem Scheunenersatzbau bei dessen Nachbarn Böttcher Hessel.
Während die Räume des Wohnhauses nach und nach ganz für die Verwaltung der Stadt benötigt wurden, war das Seitengebäude bis zum Abbruch im Jahre 1908 an Familien vermietet.
Recht unterschiedlich ist die Verwendung der Räume des jetzigen Heimathauses gewesen, nachdem es nicht mehr als Wohnhaus für die bäuerliche Wirtschaft beansprucht wurde. In den 1880er Jahren war hier die Postanstalt im Erdgeschoß untergebracht. 1888 verlegte sie ihre Räume in ein Gebäude am Markt. Ebenfalls im Erdgeschoß hatte auch einmal – wie schon berichtet – ein Sohn Wötzolds kurze Zeit ein Konfektionsgeschäft eingerichtet und später betrieb dort Nerchaus erster Buchbindermeister Julius Böhm sein Handwerk und sein Ladengeschäft. Die Ladentür befand sich am Ostgiebel.
Ferner praktizierten im Haus der Oberstabsarzt Dr. Kopseel und sein Nachfolger Dr. Bloedoern. Dr. Kopseel bewohnte das Obergeschoß. Als Naturfreund pflanzte er die vier Linden vor seiner Wohnung, die noch heute vor dem Heimathaus stehen.
Dr. Bloedorn, später mit dem Titel eines Sanitätsrates ausgezeichnet, hatte sein Sprechzimmer im Erdgeschoss links vom Eingang. Seine Pferde für die Fahrt zu seinen Patienten standen im Seitengebäude, denn Autos gab es damals noch nicht.
Als am 1. September 1890 (Nerchau zählte in jenem Jahr 1649 Einwohner) Nerchaus erster berufsmäßiger Bürgermeister Emil Kaulisch seine Amtstätigkeit hier aufnahm, wurde das frühere Bauernwohnhaus Verwaltungsgebäude – das sogenannte „Stadthaus“ der Stadt Nerchau. Die Bezeichnung Stadthaus anstelle Rathaus hat sich bei den Nerchauern bis Ende der 1980er Jahre erhalten.
Im Obergeschoß erhielt der neue Bürgermeister eine Amtswohnung und später nach ihm Polizeiwachtmeister Möbius.
Emil Kaulisch war außerordentlich rührig und verfügte über besondere organisatorische Gaben. Die Verwaltungsarbeiten wuchsen. Bald trat ein neuer Verwaltungszweig hinzu. Am 1. Mai 1891 wurde im Stadthaus die Sparkasse eröffnet. ihre Leitung übernahm der seit 1890 in Nerchau tätige Stadtkassierer Konrad Leicht, der Kaulischs Nachfolger im Bürgermeisteramt wurde.
Noch eines treuen Beamten jener Zeit, da das Städtchen sein Rathaus bekommen hatte, sei hier gedacht: des legendären Polizeidieners Fritz Leipnitz. Bevor die Beamten zum Dienst erschienen, hatte er in der Morgenfrühe für Glanz und Wärme in den Expeditonsräumen gesorgt.
Seit dem Jahre 1912 erfuhren die Kassenräume der Sparkasse eine stärkere Beanspruchung, da sie zugleich für die Girokasse benutzt wurden. Erst 1930 siedelten Spar- und Girokasse ins eigene 1929/30 erbaute Haus an der Hauptstraße um.
Einige Jahre vor dem 1.Weltkrieges hatte schon die Ortskrankenkasse ihre Verwaltungsstelle wegen Raumnot aus dem Stadthaus verlegen müssen.
Vierzig Jahre lang – bis Ostern 1932 – hat das Stadthaus außerdem der ehemaligen Beamtenschule als Ausbildungsstätte ihrer Schüler in den Anfängen praktischer Verwaltungsarbeit gedient.
In den 1930er Jahren wurde das Gebäude saniert. Die Straßenseite erhielt einen repräsentativen Eingangsbereich unter Verwendung von Natursteinen so wie er bis heute erhalten ist.
Bis 1945 diente das Haus als Sitz der Verwaltung der Stadt Nerchau und des Polizeireviers.
1945 reichte der Platz im Stadthaus wegen umfangreicher zusätzlicher Verwaltungsaufgaben, die später wieder entfielen (z.B. Unterbringung Umsiedler, Ausgabe von Lebensmittelkarten und Bezugsscheinen usw.) nicht aus und die Stadtverwaltung zog komplett in Räume der ehemaligen Beamtenschule um.
Die leer gewordenen Diensträume im Obergeschoß wurden wieder als Wohnungen vermietet. Das Revierbüro der Polizei blieb im Untergeschoß.
Anfang der 1970er Jahre zog die Stadtverwaltung wieder in ihr altes Domizil ein. Es erfolgte an der Westseite des Gebäudes ein einstöckiger Anbau. Im Obergeschoss entstand dadurch ein neuer großer Raum für standesamtliche Trauungen, der auch für die Sitzungen der Ratsmitglieder diente.
Die nächsten dreißig Jahre bis 2005 wurde das Rathaus von Stadtverwaltung und Polizei genutzt und ist heute das Heimathaus.
Bis zur Eingemeindung Nerchaus nach Grimma amtierten folgende Bürgermeister:
Ferdinand König 1868 – 1890
Emil Kaulisch 1890 -1902
Konrad Leicht 1902 – 1922
Alfred Ackermann 1922 – 1933
Paul Haferkorn 1933 – 1945
Alfred Ackermann 1945
Oskar Henschel 1945 – 1950
Walter Richter 1950 – 1953
Max Beurich 1954 – 1959
Arthur Hecht 1959 – 1977
Sigrid Lorius 1977 – 1990
Uwe Cieslack 1990 – 2010