Der Nerchauer Tintenkrieg

„Nerchauer Geschichten“

Nerchau hat außer dem „Bierkrieg zwischen Grimma und Nerchau von 1537 – 1575 “ noch einen zweiten unblutigen „Krieg“ erlebt, den „Tintenkrieg“.

Ausgefochten wurde er vor knapp 150 Jahren zwischen dem damaligen Nerchauer Schuldvorstand und dem amtierenden Kirchschullehrer Christian Friedrich Kießling, einem äußerst tüchtigen und beliebten Pädagogen und Verfasser unseres „Nerchauer Heimatliedes“.

Kießling war sehr energisch und fortschrittlich eingestellt. Diese Einstellung mißfiel dem rückschrittlichen Schulvorstand, der sich aus Handwerksmeistern, Geschäftsleuten, Bauern und dem Pfarrer zusammensetzte. Aus diesem Grunde gab es oft Reibereien, die in Sitzungen teilweise zu scharfen Wortgefechten ausarteten. Kießling ließ sich nichts gefallen und setzte mit seiner Wortgewandtheit und Überlegenheit oft genug das durch, was er wollte. Andererseits rächte sich dafür der Schulvorstand, wo er nur konnte. Eines der Scharmützel, die Kießling mit dem Schulvorstand ausfocht, war der „Nerchauer Tintenkrieg“. Die Auseinandersetzung entbehrt nicht eines gewissen Humors, obwohl sie unserem Kießling ziemlich tief zu Gemüte gegangen zu sein scheint.

Es handelt sich dabei um die leidige Tintenfrage. Bei seinem Amtsantritt hatte er sich bereit erklärt, für eine Entschädigung von jährlich 2 Talern die nötige Schultinte für sämtliche Kinder zu liefern. Der ausbedungene Betrag erwies sich aber als unzureichend, und so stellte Kießling beim Schulvorstand den Antrag, dass ihm die Entschädigung von 2 Talern auf 6 Taler erhöht werde. Der Schulvorstand lehnte die Mehrforderung ab, indem er sich auf den früher abgeschlossenen Vertrag berief. Hierauf gab Kießling den Gefühlen seines gekränkten Herzens in einem Klage- und Beschwerdeschreiben Ausdruck, das sich in den Schulakten erhalten hat.

Das nach Form und Inhalt ganz treffliche Schriftstück ist insofern interessant, als es einmal einen Einblick gestattet auf den Bildungsgrad des Schulmeisters Kießling, zum anderen die Zustände beschreibt, wie sie vor 150 Jahren in einem ländlichen Schulbetrieb, wie eben in Nerchau, herrschte. Kießling fasste folgendes Schreiben ab:

Vielgeehrter Schulvorstand!

Meine billige und gerechte Bitte, mir noch einige Taler zu der Auslage für Tinte zuzulegen, ist mir leider abgeschlagen worden; ob ich gleich glaubte, Jeder müsse einsehen, dass Niemand für zwei Taler eine gute schwarze Tinte für 176 Schüler jährlich liefern könne. Ich begnügte mich damals mit diesem geringen Satze, theils weil, wie Sie sich wol erinnern werde, mir dieser Antrag ganz unerwartet kam, und ich nicht gleich im Stande war, einen richtigen Satz anzugeben, theils weil Sie mir damals versprachen, billig und freundlich gegen mich zu seyn, und ich daher dieser Versicherung im Billighandeln nicht nachstehen wollte. Doch ist mir sehr erinnerlich, dass ich diesen Contrakt nicht auf mehrere Jahre, noch viel weniger auf meine Lebenszeit, sondern, wie ich mich ausdrückte, einstweilen gemacht habe.Denn wie kann einer auf Lebenszeit dieß übernehmen, da die Zahl der Kinder jährlich mehr steigt als fällt. Ich verlange zwar nur 6 Taler, ob ich gleich weiß, dass ich auch mit diesen nicht gut auskommen kann; aber ich würde die Gewährung meiner Bitte als einen Beweis Ihres Wohlwollens angesehn, und gern etwas eingebüßt haben, wenn mir diese bewilligt worden wäre. Da denn nun aber meine Billigkeit ganz verkannt wird, so kann mir`s niemand verdenken, wenn ich Dinge in Anspruch nehme, die ich niemals erwähnt haben würde. Diese sind denn folgende:

  1. Muß in die Schulstube ein Schrank, der verschlossen werden kann, geschafft werden, um die Tintenfäßer nach den Schreibestunden hineinzusetzen, weil ich nunmehr gezwungen bin, sparsamer mit Tinte umzugehen. Bisweilen ließ ich`s geschehen, dass die Kinder, die  gern zu Hause sich im Schreiben üben, ihre Fässer aus den Meinigen füllen konnten.
  1. Brauche ich 36 gläserne Tintenfäßer. Die jetzigen sind mein Eigenthum und niemals habe ich Ansprüche gemacht, wenn einige zerbrochen wurden, neue zu verlangen, sondern ich besorgte und kaufte sie aus eigenen Mitteln.
  1. Muß ich wegen des Streusandes entschädigt werden. Jede Metze muß ich mit 6 Pfennig kaufen; und ich kann annehmen, dass ich für rund 6 Schreiber jährlich eine Metze nöthig habe.
  1. Brauche ich 18 Steusandbüchsen. Von diesen kostet à Stück 3 Pfennig, von Tintenfässern à Stück 1 Groschen 3 Pfennig. Wollen Sie die Meinigen mir abkaufen, so habe ich nichts dawider; sonst aber verkaufe ich sie an andere Schulen.
  1. Verlange ich eine Entschädigung dafür, die Schreibbücher zu heften. Aus Liebe zur Ordnung, und weil selten die Eltern ein Buch fest und ordentlich heften können, hab ich`s unternommen. Da ich jeden Tag 6-8 Bücher zu heften habe, so kann ich annehmen, dass ich jährlich mehr als für 1 Taler Zwirn dazu nöthig habe. Desgleichen brauche ich 18 Lineale, die jetzigen sind ebenfalls mein Eigenthum.

Und wieviel Kreide, Schiefer- und Bleistifte werden verbraucht, womit den Kindern ausgeholfen wird, die nicht damit versehen sind. Sie können aber daraus ersehen, dass, wenn ich ebenfalls knickerig und eigennützig handeln wollte, öfters ¼ der Schüler in den Lehrstunden müßig sitzen müßte; und daher erwarte ich mit Gewißheit, dass meine billige als gerechte Bitte nicht abgeschlagen werden würde. Aber es scheint mir, als würde ich betrachtet als einer der gleichsam nur das Gnadenbrot erhielte, oder als einer der nur das halbe Brod verdiente; ob Ihnen gleichwohl der Zustand der Nerchauer Schule zu der Zeit, als ich sie übernahm, nicht unbekannt seyn sollte. Sollte Ihnen der selbe nicht mehr erinnerlich seyn, so will ich Ihnen nur das sagen, in welchem Rufe damals die Nerchauer Schule bei der Inspektion stand. Denn als ich von meinem Herrn Collator (Vorgesetzter) die Desígnation (Ernennung) erhielt, so fragt er mich, ob ich auch Kraft und ausdauernden Muth habe, eine Schule zu übernehmen, die bisher ganz vernachlässigt worden sey? – und als ich mich beim Herrn Superintendent in Grimma präsentierte, so sagte dieser zu mir: „Sie finden viel Arbeit, denn Nerchau ist eine der schlechtesten Schulen in meiner Ephorie.“ – Nun frage ich Sie; ob ich diesen Schandflecken von der Nerchauer Schule vertilgt, und ob ich meine Zeit und Kräfte nicht zur Verbesserung derselben verwendet habe? – Wenigstens kann mir mein Herz keine Vorwürfe darüber machen, auch habe ich die Versicherung meiner Obern, das Meinige gethan zu haben, indem mir im Jahre 1834 von Dresden aus ein Belobigungsschreiben ertheilt wurde. Ich erwähne dies nicht etwa, als wenn ich mir einbildete, mehr getan zu haben als ich sollte. Aber so wie jeder thätige Arbeiter mit Muth beseelt wird, wenn seine Thätigkeit erkannt wird, ebenso und noch viel mehr ein Schullehrer, der bei seinem sauren Amte vorzüglich viel Muth und Geduld nöthig hat. Unstreitig ist das auch die Absicht des neuen Schulgesetzes und insbesondere die Einrichtung von Schulvorständen, damit dieselben ihre Aufmerksamkeit vorzüglich darauf richten sollen, nicht wie sie den Dienst des Lehrers beschneiden und verringern, sondern wie sie vielmehr seinen Muth beleben und beseelen möchten; denn nur dadurch kann eine Schule gehoben und vervollkommnet werden. Glücklich ist daher eine solche Schule und ein solcher Lehrer, wo Gemeinsinn, Liebe und Wohlwollen in der Gemeinde herrschen, und wo Gemeinde und Lehrer in Eintracht die Erziehung der Kinder berathen und befördern. Dieß ist denn auch mein sehnlichster Wunsch, dass ein solches Verhältniß wieder unter uns eintreten möge, und nur diese Absicht lag zum Grunde, warum ich Ihnen dieses zur unparteiischen Beurtheilung niederschrieb.

Nerchau, den 1ten Februar 1837                         Der Schulmeister                                Kießling

Dieser herzbewegende Appell verfehlte denn auch im gegnerischen Lager nicht ganz seine Wirkung. Zwar wurde die Forderung eines verschließbaren Schrankes zurückgewiesen, weil sie – wie es im Protokoll heißt – a) ungesetzlich und b) unnötig sei. Auch die verlangte Entschädigung für das Heften der Schreibebücher fand man zu hoch, da zum Heften von täglich 8 Büchern noch nicht 30 Gebind Zwirn gebraucht würden. Mithin soll jedes Kind seine Bücher zu Hause heften oder heften lassen. Dagegen war der Schulvorstand generös (großmütig) genug, die 36 gläsernen Tintenfässer und die 18 Steusandbüchsen für den angegebenen Preis zu kaufen, außerdem für jedes Kind das schreibt, jährlich eine Metze Sand, und das macht für sämtliche Kinder 2 Scheffel, auf Gemeindekosten zu spenden. Die 18 Lineale sollten nach ihrem Wert entschädigt und dem Schulinventar einverleibt werden.

So endete der Tintenkrieg für den Nerchauer Schulmeister noch mit einem leidlichen Frieden.

(Walther Koch)

 

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