Nerchau 1945

Die Endphase des zweiten Weltkriegs in Nerchau

Nerchau wurde im Frühjahr 1945 zum Frontgebiet. Der Krieg trat in sein Endstadium. Von Westen näherten sich amerikanische, von Osten sowjetische Truppen.

Dazwischen irrten Hunderttausende umher: deutsche Truppenverbände und Verwundeten-Transporte, Evakuierte und Vertriebene, Flüchtlinge sowie Zwangs- und Fremdarbeiter. Östlich von Elbe und Mulde rückten sowjetische Truppen vor, eine flüchtende Menschen-masse vor sich herschiebend, die versuchte, auf die Westseite der Flüsse zu gelangen, um der Roten Armee zu entkommen.

Es herrschte ein heute kaum noch nachvollziehbares Chaos.

So stießen amerikanische Verbände am 2. April an den Rand des mitteldeutschen Raums vor und nahmen Kassel und Fulda ein. Ihr Vormarsch ging infolge der sich auflösenden deutschen Verteidigungslinien schnell voran.

Begleitet wurde er von massiven Angriffen amerikanischer und britischer Bomber. Am 5. April traf es die Leuna-Werke und Naumburg, einen Tag später Leipzig und Halle, am 8. April Halberstadt, Stendal und Zerbst sowie am 11. April Dessau.

Im Süden rückte die 1. US-Armee ebenfalls am 11. April bis an die Saale bei Bad Kösen heran, nahm einen Tag später Sangerhausen ein und erreichte am 13. April die Saale bei Alsleben und Friedeburg.

Bis zu diesem Zeitpunkt ist es in Grimma und Umgebung ruhig. Man hört Kriegsgeräusche aus der Ferne, die am 13. und 14. April etwas nachlassen, weil die Amerikaner kurzzeitig bei Zwenkau auf stärkeren deutschen Widerstand gestoßen sind.

Plötzlich rückt die Mulde jedoch in Frontnähe. Es kreisen Schlachtflugzeuge über Grimma. Deutsches Militär strömt mit seinen Fahrzeugen rückwärts über die Muldenbrücken in Richtung Osten. Volkssturm und einige Soldaten sind mit Panzerfäusten in Brückennähe aufgestellt und bereiten die Sprengung der Brücken vor.

Nach kurzer Stille plötzlich wieder Geschützdonner, es ist der 15. April 1945. Die Amerikaner haben Großbothen erreicht, im Nimbschener Wald wird gekämpft. Etwa 17.00 Uhr wird nach verhältnismäßig kurzem Kampf der Westen von Grimma eingenommen. Gegen 18.00 Uhr gibt es eine laute Detonation, die Muldenbrücke wird gesprengt, was schicksalhafte Folgen für die Anwohner des Ostufers haben wird.

Auch die Muldenbrücken in Golzern und Trebsen werden gesprengt.

Der Vorstoß des VII. US Corps aus dem Raum Sangerhausen zur Saale und Mulde führt zur Besetzung der Stadt Halle und der mitteldeutschen Industrieregion Dessau-Bitterfeld-Wolfen und des gesamten Gebietes zwischen Harz und Mulde.

Während Halle den Amerikanern am 17. April durch Vermittlung des Grafen Luckner weitestgehend unblutig in die Hände fiel, leisteten die Truppen des Magdeburger Kampfkommandanten Adolf Raegener hartnäckig Widerstand. Ein Kapitulationsangebot lehnte er ab. Daraufhin bombardierten die Amerikaner das bereits am 16. Januar 1945 weitgehend zerstörte Magdeburg am 17. April erneut.

Zwischen dem 16. und dem 18. April 1945 rollen amerikanische Panzer durch Grimma in Richtung Hohnstädt. Weiße Fahnen wehen! Auf dem Waltherturm stehen amerikanische Beobachter, die in Richtung Osten über die Mulde schauen.

Die Deutschen Soldaten sind jetzt am Ostufer. Es wird mit Gewehren und Maschinen-gewehren von Ost nach West und umgekehrt gefeuert.

Artilleriebeschuss der Amerikaner über die Mulde beschädigt in Nerchau die Kirche mit den bleigefaßten farbigen Glasbildern sowie das Obergeschoß der Schule und zerstört  in Golzern die Schule und den Bahnhof.

Auf dem Markt in Nerchau detoniert mitten in dem dort auf Einweisung in Quartiere wartenden Flüchtlingstreck eine Panzergranate und tötet zahlreiche Frauen und Kinder. Sie wurden in einem Massengrab auf dem Nerchauer Friedhof (am Wegekreuz) beigesetzt.

Eigentlich sollte das von den Amerikanern besetzte Gebiet zur Sowjetischen Besatzungszone gehören. Aber weil sich der Zusammenbruch der Westfront durch kapitulierende Wehrmachtsteile in immer schnellerer Folge vollzog und die Westalliierten dadurch schneller vorankamen als die Rote Armee, einigten sich Roosevelt und Stalin darauf, dass die Amerikaner bis zur Elbe und Mulde vorrücken sollten. Gemäß der Order ihrer Militärführung war damit ihr Vorstoß beendet. Nun hieß es, am Flussufer auf die Rote Armee zu warten.

Die Versorgungslage am Ostufer der Mulde wird immer kritischer. Polnische und russische Kriegsgefangene und eine Unmenge von Zwangsarbeitern fast aller Nationen machen Jagd auf alles Essbare.

Unterhalb des Schomerberges zwischen Dorna und Grimma erfolgt nach dem 19. April 1945 dann doch die Muldenüberquerung der Amerikaner. Sie rücken weiter nach Osten vor.

Auch Nerchau wird nun von den Amerikanern besetzt.

Amerikanische und sowjetische Truppen treffen schließlich am 25.04.1945 an der Elbe bei Torgau zusammen.

Nach einem amerikanischen Teilrückzug rückte die Rote Armee bis zur Mulde vor. Am 7. Mai 1945, einen Tag vor Kriegsende erreicht sie das Ostufer der Mulde.

Schon am Vormittag rollen die ersten Pantschewagen mit Rotarmisten durch Nerchau. Im Sparkassengebäude wird die Kommandantur eingerichtet.

Doch damit sind die dramatischen Ereignisse in Nerchau noch nicht zu Ende.

Die Mulde ist nun Grenze zwischen den sowjetischen und amerikanischen Soldaten. Die Amerikaner hielten sich an die Absprache mit den Sowjets und hinderten die Zivilbe-völkerung daran, die Mulde zu überqueren.

In ihrer Verzweiflung versuchten viele, den Fluss zu durchschwimmen oder mit selbst-gebauten Flößen zu überwinden. Sie werden gnadenlos beschossen. Es gibt Tote. Am Ufer der Mulde sind deren Gräber am Bahndamm zwischen Dorna und Nerchau noch bis in die fünfziger Jahre zu sehen. Die Toten werden später auf den Friedhof in Döben umgebettet.

In diese Zeit fällt auch ein tragisches Ereignis am Muldenbogen bei Schmorditz. Acht befreite italienische Kriegsgefangene fahren mit einem Wehrmachtsbus (einen Übergang über die Mulde nach Westen suchend) von Golzern Richtung Nerchau und geraden (in Höhe der jetzigen Autobahnbrücke) in das Schussfeld der Amerikaner am anderen Muldenufer. Der getroffene Bus brennt aus und die Italiener kommen darin qualvoll um. Erst nach Tagen werden die Leichen in der Nähe begraben. Das Grab ist heute noch am Schmorditzer Wald zu sehen und wird liebevoll gepflegt.

Der Gang zum Muldenufer erweist sich nun als die einzige Möglichkeit eine Verbindung zum anderen Ufer herzustellen. Manch einer sieht drüben seine Verwandten stehen und kann nur ein paar Worte hinüber rufen. Obwohl die Amerikaner jeden wieder wegtreiben und Warnschüsse ins Wasser feuern, finden diese eigenartigen Muldengespräche den ganzen Tag statt.

Gemäß Jalta-Abkommen (Krimkonferenz vom 3. bis 11. Februar 1945) verlassen die Amerikaner am 1.Juli ihre besetzten Gebiete westlich der Mulde. Die Rote Armee besetzt am 2. Juli 1945 Leipzig und nimmt in den Folgetagen Sachsen-Anhalt und Thüringen ein.

Über die gesprengten Muldebrücken zu gelangen ist aber bis Monatsende noch schwierig. Es werden provisorische Holzbrücken gebaut. Der Fährbetrieb ist verboten. Anfangs finden noch Kontrollen statt. Später sind nur noch ein sowjetischer und ein deutscher Wachposten präsent. Im Dezember 1945 steht auf den Brücken nur noch ein deutscher Polizist.

Im August 1945 „normalisiert“ sich das Leben wieder. Die (Behelfs-)Brücken sind frei.

Im Oktober wird der regelmäßige Schulbetrieb in Nerchau wieder aufgenommen.

 

 

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